In dem Umfeld, in dem ich arbeite (Menschen und Teams bei Themen wie z.B. Agilität zu begleiten), ist er mir schon häufig begegnet: Der Cargo Kult. Ob es blind eingeführte agile Rahmenwerke und Methoden waren oder der inzwischen viel zitierte Kickertisch - irgendwie sind wir alle nicht gefeit davor, in diese Falle zu tappen. Best Practices sind einfach so verlockend! Warum sie in vielen Bereichen nicht funktionieren und was es mit diesem Cargo Kult auf sich hat, erfährst du in diesem Beitrag.
Die einfache Definition lautet ungefähr so: Nachahmen von Verhalten, ohne den dahinter liegenden Sinn zu verstehen.
Und woher kommt der Name? Das Phänomen des Cargo Kults beginnt bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf Inseln des Pazifischen Ozeans im Zuge des Kolonialismus (heute z.B. Neuguinea, Neukaledonien, Salomonen). Die dortigen Einheimischen glaubten daran, dass ihre Ahnen durch symbolische Handlungen wiederkehren und westliche Waren (Cargo) mit sich bringen.
Besonders bekannt ist die Zeit amerikanischer Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Landebahnen, Tower und Lagerräume wurden auf den Inseln errichtet. Damals wurden Versorgungspakete mit Kleidung, Nahrung etc. aus der Luft abgeworfen. Nach Ende der Besatzung ahmten die Einheimischen nach, was sie zuvor beobachtet hatten. Sie schnitzten sich z.B. Kopfhörer aus Holz und imitierten Landesignale. Doch die Waren, die vom Himmel fielen, blieben freilich aus.
In bestimmten Teilen ist dieses Verhalten heute noch zu beobachten. Mehr zur Geschichte des Cargo Kults findest du hier.
Schauen wir uns nun dieses Phänomen im unternehmerischen Kontext an. Vor allem wenn es darum geht, als Unternehmen oder Team "agil werden" zu wollen, wird das o.g. Beispiel gerne herangezogen, um auf die möglichen Gefahren hinzuweisen, wenn Dinge unreflektiert getan werden.
Agile Frameworks oder agile Methoden haben Hochkonjunktur. Leider passiert es viel zu oft, dass solche Methoden einfach nur mechanisch bzw. um ihrer selbst willen eingesetzt werden, ohne die Prinzipien und den Sinn dahinter zu berücksichtigen. Das Rahmenwerk wird oftmals abgewandelt und vereinfacht, so dass sie bequemer anwendbar sind und die nötigen Veränderungen in der Organisations- oder Teamstruktur und Kommunikation so gering wie möglich zu halten. Natürlich immer in der Hoffnung, dass sich dadurch Verbesserungen einstellen.
Und das kommt dann beispielsweise dabei raus:
Aber halt, sagst du, agile Rahmenwerke und Methoden müssen doch auf den individuellen Kontext angepasst werden..? Ja, das stimmt. Aber nur, wenn ich die zugrundeliegenden Prinzipien und Wirkweisen verstanden habe und weiß, was ich mit der Anpassung bezwecke. Denn sonst wird der Erfolg der Methode genau dadurch verhindert und am Ende stellt das Ergebnis keinen Mehrwert dar.
Alle agilen Arbeitsweisen fußen auf den Grundsätzen und Prinzipien des agilen Manifests (welches in diesem Jahr 2021 übrigens 20 Jahre alt wird). Diese finden sich in den Artefakten, Events und Rollen in den einzelnen Rahmenwerken und Methoden wieder. Und obwohl es seinen Ursprung in der Softwareentwicklung hat, ist es auf alle Bereiche, die komplexe Themen abdecken, anwendbar.
In der Zeit B.C. (before Covid) waren sie sehr beliebt. "Lernreisen" zu den erfolgreichen Startups ins Silicon Valley oder nach Tel Aviv. Tolle Unternehmenskultur, wirtschaftlich erfolgreich, cool, die besten Leute aus aller Welt. Dort konnte man sich vermeintlich live anschauen, was diese Unternehmen so erfolgreich macht. Aber auch virtuell ist das bestens über Videos und dergleichen möglich. Und diese Beobachtungen wurden dann 1 zu 1 im eigenen Unternehmen oder Team integriert. Auch hier wieder - du ahnst es - ohne konkret zu hinterfragen, was dahinter steckt und WOZU die Dinge so gemacht werden, wie sie gemacht werden.
Ein paar Beispiele gefällig? Du kennst bestimmt ein paar:
All das und noch viel mehr können wir bei erfolgreichen Teams und Unternehmen beobachten. Für sie funktioniert das, was sie tun.
Es wäre nun fatal, einen kausalen Zusammenhang herzustellen: Unternehmen X hat eine tolle kollegiale Kultur, weil sie Kickertische haben und Hoodies tragen. Oder Team A arbeitet sehr produktiv, weil sie Haftnotizen auf einem Board hin- und herschieben. Google ist so erfolgreich, weil sie mit super ambitionierten Stretch Goals arbeiten.
Das, was erfolgreiche Unternehmen ausmacht - seien es beobachtbare Artefakte oder die Organisationsstruktur - hat sich über einen Zeitraum entwickelt und wird nie aufhören, sich zu entwickeln. Weil das für Unternehmen A funktioniert, muss es nicht für Unternehmen B funktionieren. Es gibt im komplexen Umfeld keine Blaupause.
Wenn du es bis hierher geschafft hast, bist du schonmal ein Stück sicherer 😉
Am effektivsten ist tatsächlich Reflexion und sich ständig zu fragen: "Wozu?", bevor irgendetwas blind eingeführt wird. Das ist auch eine meiner Lieblingsfragen, wenn ich mit meinen Klient:innen arbeite.
Die Frage "Wozu?" ist dein bester Freund!
Wozu wollen wir Scrum einführen? Warum wollen wir mit OKR arbeiten? Was bezwecken wir damit? Wobei sollen uns Daily Standups helfen? Und was brauchen wir noch, damit es effektiv funktioniert?
Als Inspiration kannst du dir auch gerne einmal das Shu Ha Ri Prinzip anschauen. In der japanischen Philosophie beheimatet, beschreibt es quasi die Stufen des Lernens. Und dass diese nacheinander erfolgen müssen.
So verlockend es klingen mag, Blaupausen, Best Practices, Experten-Tipps etc. haben in unserer komplexen Welt ausgedient. Es gibt keinen easy fix. Nur durch schlichtes Nachahmen, ohne das gesamte System zu betrachten und den zugrundeliegenden Sinn zu verstehen, werden Aktionen einfach nur genau das bleiben: Erfolglose Handlungen. Im schlimmsten Fall hinterlassen solche Vorhaben verbrannte Erde und du brauchst deinen Teams nie wieder mit den jeweiligen Begriffen, wie z.B. Agilität oder Change zu kommen.
Nimm dir Zeit, um die Dinge zu hinterfragen. Um ein Experiment mit einem Team zu starten. Gehe auf das "Warum" und "Wozu" ein. Mach dir klar, welche Prinzipien und Wirkweisen z.B. einem agilen Rahmenwerk zugrunde liegen. Schau hin, wo noch andere Veränderungen im System nötig sind. Beteilige deine Leute aktiv. Mit Kopfhörern aus Holz wirst du deine Mitarbeiter:innen nicht hören.